Bei dem eigenartigen Anblick möchte man gern an kleine außerirdische Wesen glauben! Tatsächlich aber sind es „nur“ merkwürdig aussehende Insekten, die auf den Blüten der Wollköpfigen Kratzdistel (Cirsium eriophorum) zuhause sind. Das gesamte Aussehen dieser kleinen Zweiflügler (Diptera) aus der Familie der Frucht- oder Bohrfliegen (Tephritidae), ihre Körperfarbe, -musterung, -behaarung und besonders ihre oft großen irisierenden Facettenaugen können die Fantasie beim Betrachten ziemlich befeuern. Doch auch als echte „Erdlinge“ – ohne deutschen Namen – ist ihr Leben interessant und durchaus spannend.
Weltweit kommen ca. 4500 Bohrfliegenarten vor, in Mitteleuropa sind es ungefähr 300 Spezies. Die kleinen bis mittelgroßen Zweiflügler besitzen oft auffällig gemusterte Flügel oder schillernd gefärbte Komplexaugen. Die Weibchen haben in der Regel eine spitzauslaufende Legeröhre, mit der sie Pflanzengewebe zur Eiablage anbohren. Daher der Name Bohrfliegen.
Die Larven der Bohrfliegen entwickeln sich fast ausschließlich in lebenden pflanzlichen Geweben. Praktisch alle Pflanzenteile – von der Wurzel bis hin zur Frucht – können genutzt werden.
Einige Arten richten gelegentlich erhebliche Schäden in Landwirtschaft und Obstbau an wie die Kirschfruchtfliege (Rhagoletis cerasi). Andere verursachen Gallen an verschiedenen Pflanzen oder fressen sich als minierende Maden durch das Pflanzengewebe
Viele Spezies nutzen diverse Pflanzenarten oder Gattungen, ihr ökologisches Spektrum ist breit gefächert. Einige Bohrfliegenarten sind jedoch hoch spezialisiert wie: Terellia longicauda, sie lebt monophag. Das heißt: Ihr Lebensraum sind allein die Blütenköpfe der Wollköpfigen Kratzdistel. Hier findet ihr gesamter Entwicklungszyklus statt. Ambitionierten Naturguckern erleichtert diese lebensräumliche Begrenzung das Beobachten der kleinen ca. 5 mm großen Fliegen natürlich sehr.
Bohrfliegen anhand von Fotos zu bestimmen, ist nicht einfach und oftmals unmöglich. Auch Terellia longicauda ist leicht mit der ähnlichen Terellia serratulae zu verwechseln. Letztere lebt in der Regel auf anderen Kratzdistelarten.
Wirtspflanzen sind neben den Flügelzeichnungen oft artspezifisch und für eine Bestimmung wichtig. Da im NSG nur auf dem einzigen Vorkommen der Wollköpfigen Kratzdisteln Bohrfliegen gefunden wurden und im erweiterten Umkreis auf keiner anderen Kratzdistelart Bohrfliegen zu finden waren, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich bei den fotografierten kleinen Zweiflüglern um Terellia cf. longicauda handelt. Dennoch besteht eine Bestimmungsunsicherheit, auf die mit dem Kürzel „cf.“ vor dem Artnamen hingewiesen wird und zwar immer dann, wenn in diesem Artikel ganz konkret die kleine „Brachenleite-Bohrfliege“ gemeint ist.
„cf“: collectio formarum, lateinisch für Formenkreis als Hinweis auf nicht sicher bestimmte Taxa in der Biologie. Aus: Wikipedia, leicht modifiziert.
Im NSG ist Terellia cf. longicauda zum ersten Mal Anfang August 2016 auf der Wollköpfigen Kratzdistel (Cirsium eriophorum) aufgefallen.
Zunächst waren nur weibliche Fliegen zu sehen, die unstet und eilig in den knospenden Blüten herumwuselten. Immer wieder steckten sie ihren Legebohrer kurz in die Blüten hinein so, als wollten sie die Qualität der Eiablageplätze auf Tauglichkeit kontrollieren. Ob in der Kürze der Zeit auch jedes Mal Eier abgelegt wurden, war nicht zu erkennen und wurde wegen des störenden Eingriffs auch nicht überprüft. Oft kam es zu hektischen, rivalisierenden Angriffen um die „besten“ Plätze.
Neben aller Hektik gab es auch Ruhephasen. Einzelne Bohrfliegen nutzten die Pausen um ganz „vergnüglich“ Blasen zu „blubbern“. Wobei das Vergnügen eher auf der Seite der Betrachterin lag. Die Tätigkeit der „Tröpfchenbildung“ konnte einige Zeit in Anspruch nehmen, innerhalb derer der Tropfen vorsichtig herausgepresst und wieder eingesogen wurde. Das geschah oft mehrere Male hintereinander.
Der Grund für dieses Verhalten ist noch nicht wirklich geklärt. Es gibt hierzu aber verschiedene Theorien. Eine Annahme bringt diese Aktivität mit der Verdauung der Insekten in Verbindung. Weitere sehen in ihr eine Form der Temperaturregulierung oder ein Reinigen und Spülen des Saugrüssels. – Wie dem auch sei, im Moment scheint nur die kleine Bohrfliege genau zu wissen, was sie da tut.
Männliche Bohrfliegen waren auf der Wollköpfigen Kratzdistel immer in der Unterzahl. Auch hielten sie sich weniger auf den Distelblüten auf. Sie liefen vielmehr rastlos die Stängel herauf und herunter, flogen aber immer wieder kurz die Blüten an, um sich den Weibchen zu präsentieren. Dabei zeigten sie ein bemerkenswertes Verhalten. Für die unaufgeklärte Beobachterin stellte sich die Balz-Situation folgendermaßen dar: War eine weibliche Bohrfliege interessiert, verhielt sie sich ruhig abwartend, während das Männchen sich etwas seitlich versetzt vor ihr positionierte. Dann aus der dem Weibchen zugewandten Thoraxseite so etwas wie einen hellen „Blinker“ (Pleuron) herausklappte, frei übersetzt nach dem Motto: „Hallo! Wie wär’s mit uns beiden!“ Bei beiderseitigem Einverständnis schritt man sofort zur Tat und nach der Paarung zur Eiablage. – Die Voraussetzung für die nächste Bohrfliegen Generation war erfüllt.
Die sich in den Distelblüten entwickelnden Larven durchlaufen mehrere Verpuppungsstadien und überwintern in einem weichen Kokon aus Pappushaaren.
Die Schilderung eigener Beobachtungen sind Momentaufnahmen, zusammengefasst aus mehreren Beobachtungstagen. Sie beschreiben keinesfalls umfassend die Lebens- und Verhaltensweise von Terellia (cf.) longicauda. Die nachträglichen Internet Recherchen zeigten jedoch Übereinstimmungen im Verhalten der Art, die sich mit den eigenen Beobachtungen deckten.
Zum Schluss:
Hochspezialisierte Arten, die wie Terellia longicauda in enger Abhängigkeit von ihrer Wirtspflanze leben, sind besonders gefährdet. Denn sie können nur überleben, solange ihr Wirt – in diesem Fall die Wollköpfige Kratzdistel – verfügbar ist. Verschwindet die Distel, weil ihr der Lebensraum – Feldraine, magere Weiden etc. – genommen wird, verschwindet mit ihr die kleine Bohrfliege, zusammen mit einer Vielzahl anderer Pflanzen- und Tierarten, welche in weiteren Gemeinschaften diese Habitate bewohnen, benutzen oder von deren Bewohnern leben.
Auf eine kleine Bohrfliege kann man zur Not verzichten. Doch wird an dem einfachen Lebensbeispiel von Terellia longicauda deutlich, niemand lebt auf einer Insel. – Auch wir Menschen sind unmittelbar betroffen. Wir leben nicht losgelöst oder getrennt außerhalb dieses umfassenden Beziehungsgeflechts.
Der mancherorts drastische Rückgang vieler Insektenarten, der überall – auch im NSG Brachenleite – zu beobachten ist, fordert einen sanfteren Umgang mit unserer Umwelt und der Natur geradezu heraus.
Ein hübscher kleiner „Alien“ namens Terellia cf. longicauda kann uns „Erdlingen“ hier vielleicht ein Wegweiser sein.
Quellenverzeichnis:
http://www.studia-dipt.de/con142.htm
Claudia HOLT and Helmut ZWÖLFER (335-344):
http://www.makro-treff.de/article/verdauungstropfen-bei-insekten
http://www.fdickert.de/zweiflue/bohrflie/bohrflie.htm
http://www.insektenbox.de/zweifl/terlon.htm
https://de.wikipedia.org/wiki/Bohrfliegen
https://de.wikipedia.org/wiki/Pleuron
Text und Fotos: Marlies Jütte